Vom Insistieren zum Informieren

Die Haltung zur Krebsprävention hat sich in der Öffentlichkeit – und unter Ärzten – rapide gewandelt. Aus einhelliger Zustimmung wurde kritische Distanz. Ein Bericht über Fortschritte, Merkwürdigkeiten und verpasste Chancen

Jeder Mensch muss selbst abwägen, ob er sich untersuchen lassen möchte oder nicht“, heißt im Vorwort des 2003 erschienenen Buch „Mythos Krebsvorsorge“ (1). Diese Aussage war vor gerade einmal 13 Jahren noch erheblich erklärungsbedürftig. Damals wurde die schlichte Formel „Vorsorgen ist besser als heilen!“ als allgemeingültig angesehen. Mögliche Schäden der Vorsorge wurden kaum diskutiert, da man dabei nur an die unmittelbaren Schäden der Untersuchungen dachte. Und was sollte an einem kleinen Piks zur Blutabnahme, einem Ultraschall oder einem Abtasten schon schädlich sein?

Zwar warnten auch damals schon einzelne Kritiker in populären Sachbüchern vor Sekundärschäden durch die Prävention (2, 3, 4, 5). Doch insgesamt gab es einen breiten medizinischen und gesellschaftlichen Konsens, dass jede Art von Vorsorge und Früherkennung sinnvoll sei. Folglich drängten Merkblätter, Broschüren und Kampagnen die Menschen zur Teilnahme. Auch die Medien warben für die Untersuchungen – statt das Vorsorgedogma zu hinterfragen.

Heute hat sich die Wahrnehmung der Prävention – und vor allem der Krebsfrüherkennung – nahezu ins Gegenteil verkehrt. Während es noch vor zehn Jahren hieß, dass präventive Maßnahmen sicher nützen und nur ausnahmsweise schaden könnten, kann man heute lesen, dass sie sicher schaden und/oder nur ausnahmsweise nützen würden. Begriffe wie „falschpositive Befunde“, „Übertherapie“ und „absolute Risikoreduktion“ gehören mittlerweile zum Grundvokabular der Wissenschaftsredaktionen. Die Kritik, so scheint es, kann heute gar nicht hart genug sein.

Qualität der Infomaterialien

Dieser Paradigmenwechsel vom Insistieren zum Informieren hat sich auf breiter Basis vollzogen: So unterscheiden sich die Materialien, die in den vergangenen sieben bis acht Jahren aktualisiert wurden oder neu erschienen sind, letztlich nur in Nuancen. Manche Verfasser zeichnen tendenziell ein eher positives Bild, während bei anderen eher das Warnen im Vordergrund zu stehen scheint.

Viel wichtiger als diese Differenzen sind die Gemeinsamkeiten. Die aktuellen Patienteninformationen weisen „durch die Bank“ drei wesentliche Qualitätsmerkmale auf:

  • Sie fordern Menschen auf, sich selbst eine Meinung zu bilden: An die Stelle des paternalistischen Drängens zur Teilnahme ist das Aufzeigen von Optionen getreten.
  • Sie benennen deutlich Nutzen und Schaden: Statt einseitig die Vorteile zu betonen, werden ebenso ausführlich die Nachteile erörtert.
  • Sie geben Risikoreduktionen auch in absoluten Zahlen an: Statt nur die dank Prävention verhinderten Todesfälle mit den an Krebs Gestorbenen ins Verhältnis zu setzen (relative Risikoreduktion), zählen als Vergleichsgröße alle Untersuchten (absolute Risikoreduktion).

Dass Menschen selbst über ihre Teilnahme an einer Maßnahme entscheiden, ist deshalb so wichtig, weil Schaden und Nutzen der Krebsfrüherkennung auf unterschiedlichen Ebenen spielen – also nicht objektiv, sondern nur subjektiv nach eigenen Wertvorstellungen vergleichbar sind. Wer wollte beispielsweise für andere entscheiden, wie viele Übertherapien so schwer wiegen wie ein verhinderter Krebstod? 0? 1? 10? 100? Dies ist eine Werteentscheidung, für die es keine allgemeingültigen Algorithmen gibt (6).

Streitfall Mammographie

Manche Institutionen müssen jedoch genau solche Werteentscheidungen treffen, wenn es beispielsweise darum geht, eine Maßnahme in die Richtlinien zur Krebsfrüherkennung aufzunehmen und als Kassenleistung anzubieten. Das hat etwa der G-BA getan, als er 2002 beschloss, ab 2005 das Mammographie- Screening einzuführen, und damit dem „grauen Screening“ ein zentral organisiertes, qualitätskontrolliertes Programm entgegenzusetzen. Dass der Nutzen den Schaden überwiege, befand kürzlich auch die US Preventive Services Task Force, als sie ihre Empfehlung von 2009 bekräftigte, dass Frauen ab 50 Jahren ein zweijährliches Mammographie-Screening angeboten werden sollte (7).

Zum gegenteiligen Schluss kam dagegen das Swiss Medical Board. Es sah durchaus, dass ein Screening über seine Laufzeit von 20 Jahren zwei bis vier von 1 000 Frauen davor bewahren kann, an Brustkrebs zu sterben. Das Gremium schätzte aber den Schaden höher als den Nutzen ein und bemängelte zudem ein „sehr ungünstiges Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis“. Das Board rät deshalb von einem organisierten Screening ab (8).

Was hieße das für Deutschland konkret? Jährlich sterben hierzulande knapp 18.000 Frauen an einem Mammakarzinom. Kein Screening anzubieten, würde einerseits bedeuten, jedes Jahr den Brustkrebstod von einigen tausend Frauen in Kauf zu nehmen – das sind weit mehr, als im Straßenverkehr sterben. Andererseits würde der Verzicht auf das Screening vermutlich mehr als 10.000 Frauen das Leid unnötiger Übertherapien nach Brustkrebsdiagnosen ersparen. Ein Gesundheitswesen kann diese harte Entscheidung durchaus so treffen, vor allem dann, wenn die begrenzten Ressourcen anderweitig effektiver eingesetzt werden können.

Die meisten Ärzte würden es wohl als Rückschritt empfinden, Frauen diese Wertentscheidung abzunehmen und ihnen die freie Wahl vorzuenthalten: Wird ein Screening-Programm angeboten, kann sich eine Frau dagegen entscheiden; wird kein Screening angeboten, aber nicht dafür. Sie kann sich dann höchstens in das vermutlich neu erblühende graue Screening flüchten.

In Deutschland profiliert sich das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin als Scharfmacher in Sachen Mammographie: 2014 wagte es sogar die Behauptung, es gäbe ein „kollektives Schweigen zum Mammographie-Screening“ (9). Die Bewertung des Swiss Medical Board sei eine „überfällige Aufforderung, eine ernsthafte öffentliche Diskussion zu beginnen“. Bürgerinnen hätten ein Recht, über die Gründe informiert zu werden, „das Screening weiterzuführen oder aber gegebenenfalls einzustellen“. Doch Medien und Politik würden schweigen.

Argumentative Schieflage?

  • Seit vielen Jahren gibt es praktisch keine neuen Evidenzen zu Nutzen und Schaden. Welche neuen Gründe sollen also dafür sprechen, das Screening wieder abzuschaffen? Etwa weil man sich das Programm nicht mehr leisten will? Entsprechend sind die Gründe, das Screening weiterzuführen, die selben, aus denen man das Programm eingeführt hat.
  • Das EbM-Netzwerk nimmt damit Frauen die Freiheit, selbst zu entscheiden – eine Errungenschaft, für die es sich seit jeher stark gemacht hat und offenbar weiter stark machen will. So steht die Jahrestagung des EbM-Netzwerks Anfang März unter dem Motto „Gemeinsam informiert entscheiden“.
  • Warum steht ausgerechnet das hinsichtlich Organisation und Evidenz reifste Projekt der Krebsprävention dermaßen in der Schusslinie? Es gibt doch Kandidaten, die viel eher abgeschafft gehören. So werden von der GKV nutzlose, aber potenziell schädliche Untersuchungen erstattet – zum Beispiel das Abtasten der Brust und der Prostata.

Dr. rer. nat. Christian Weymayr

 

Der ungekürzte Beitrag ist im Deutschen Ärzteblatt erschienen:

A 276 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 7 | 19. Februar 2016

http://www.aerzteblatt.de/archiv/174956/Krebsfrueherkennung-Vom-Insistieren-zum-Informieren

 

LITERATUR

  1. Weymayr Ch, Koch K: Mythos Krebsvorsorge. Eichborn 2003.
  2. Illich I: Die Nemesis der Medizin. Von den Grenzen des Gesundheitswesens. Rororo 1981.
  3. Heyll U: Risikofaktor Medizin. Ullstein 1993.
  4. Dörner K: Die Gesundheitsfalle: Woran unsere Medizin krankt. Econ 2003.
  5. Mühlhauser I: Mammographie. Brustkrebs- Früherkennungs-Untersuchung. Kirchheim & Co 2000.
  6. Fügemann H, Kääb-Sanyal V: Mammographie- Screening, Nutzen-Schaden-Abwägung im internationalen Vergleich. Deutsches Ärzteblatt 2016; 113(3): A74–8.
  7. Nelson HD, et al: Effectiveness of Breast Cancer Screening: Systematic Review and Meta-analysis to Update the 2009 U.S. Preventive Services Task Force Recommendation. Ann Intern Med 2016; 164: XXX–XXX.
  8. Fachgremium Swiss Medical Board: Systematisches Mammographie-Screening, Bericht 2013. www.medical-board.ch/file admin/docs/public/mb/fachberichte/ 2013–12–15_bericht_mammographie_ final_rev.pdf.
  9. Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin: Das kollektive Schweigen zum Mammographie-Screening. Pressemitteilung vom 8. 5. 2014. www.ebm-netz werk.de/pdf/stellungnahmen/pm-mammographie- screening-20140508.pdf.

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