Wie das Swiss Medical Board zu seinen Empfehlungen kommt

Die Frage nach dem Nutzen-Schaden-Verhältnis eines Mammographie-Screening-Programms wird seit geraumer Zeit öffentlich und hitzig diskutiert. Eine der jüngeren und immer wieder zitierten Publikationen zu diesem Thema stammt vom Swiss Medical Board [1], einem unabhängigen und interdisziplinären Gremium. Ziel seiner Arbeit ist die Beurteilung des Kosten-Wirksamkeits-Verhältnisses medizinischer Leistungen.
Für das systematische Mammographie-Screening kommt das Swiss Medical Board in seinem Bericht zu einem ungünstigen Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis und spricht sich daher nicht für eine Einfüh-rung aus. Diese Einschätzung ist äußerst interessant, da die Bewertung der Studienlage zu Nutzen und Schaden des Mammographie-Screenings dieselben Ergebnisse erzielt, wie sie auch von den Befürwortern des Programms proklamiert werden [2].

Erwünschte und unerwünschte Wirkungen des Screenings
Zur Beurteilung der Wirksamkeit des Screenings berufen sich die Autoren auf die neuesten Über-sichtsarbeiten und Meta-Analysen, welche sich ihrerseits auf die bekannten 8 randomisierten kon-trollierten Studien im Zeitraum von 1963 bis 1991 beziehen. Das Swiss Medical Board hält fest, dass die Durchführung eines systematischen Screenings zu einer relativen Risikoreduktion der Brust-krebssterblichkeit für eingeladene Frauen von 20% führt. Legt man die im Bericht genannten Zahlen zur absoluten Reduktion der Brustkrebssterblichkeit zugrunde, werden – bezogen auf 20 Jahre Screening und weiteren 10 Jahren Nachbeobachtungszeit nach Beendigung des Screenings – durch das Mammographie-Screening 5 von 1.000 Frauen vor dem Tod an Brustkrebs bewahrt [3], [4].

Als unerwünschte Nebenwirkungen des Screenings werden u.a. falsch-positive Befunde sowie Überdiagnosen aufgeführt. Zur Schätzung der falsch-positiven Befunde einer Screening-Runde verweist das Gremium auf eine Untersuchung von 20 Programmen in 17 Ländern [5]: Der Anteil der Frauen, die aufgrund von Auffälligkeiten in der Mammographie zu weiteren Untersuchungen eingeladen wurden, entsprach hier knapp 4%. Diese Angabe ist grundsätzlich vergleichbar mit den Ergebnissen in Deutschland. In seiner Bewertung zu Überdiagnosen schließt sich das Gremium der Aussage von Puliti [6] an: Die methodisch adäquaten Analysen von Beobachtungsstudien sowie die Ergebnisse aus der Nachbeobachtung der randomisierten klinischen Studien schätzen den Anteil der Überdiagnosen auf Werte zwischen 1 bis 10%.

Wie kommt das Swiss Medical Board nun auf Basis dieser Daten zu seiner Einschätzung, dass das Screening ein ungünstiges Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis habe?
Zur Bestimmung der Wirksamkeit verwenden die Vertreter des Boards das Konzept der sogenannten QALYs (Quality Adjusted Life Years): Diese werden verwendet, um Therapieergebnisse unter Berücksichtigung der Lebensqualität mess- und vergleichbar zu machen. Dabei wird die Lebenszeit entsprechend der Lebensqualität, ausgedrückt als Nutzwertfaktor (siehe Tabelle 1), gewichtet. Für einen Patienten werden jeweils alle Zeiten mit einer bestimmten Lebensqualität mit dem entsprechenden Nutzwertfaktor multipliziert und anschließend diese gewichteten Zeiten aufaddiert. Anhand der so berechneten QALYs können dann Patientengruppen mit und ohne Therapie direkt verglichen werden. Wie genau allerdings der Nutzwertfaktor ermittelt werden kann, ist umstritten, weshalb z.B. das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Deutschland bisher eine Kosten-Nutzen-Bewertung aufgrund von QALYs ablehnt.

Zur Bewertung des Mammographie-Screening Programms wurden Frauen mit und ohne Screening in 4 Gruppen unterteilt:
1. Frauen ohne Brustkrebserkrankung und unauffälliger Mammographie
2. Frauen mit einem falsch-positiven Mammographie-Befund (nur Screening)
3. Frauen, bei denen Brustkrebs diagnostiziert und behandelt wird und die weiterleben
4. Frauen, die an Brustkrebs versterben

Pro Gruppe und Screening-Situation wurden feste Annahmen zu Lebenszeiten und entsprechenden Nutzwertfaktoren gemacht. Zum Beispiel wurde für Frauen mit einem falsch-positiven Befund im Screening für ein halbes Jahr ein reduzierter Nutzwertfaktor von 0,9 angenommen. Ein Vergleich der QUALYs von Frauen ohne Screening und von Frauen mit Screening ergibt eine, wenn auch sehr kleine, negative Bilanz von -0,00014 qualitätsadjustierten Lebensjahren pro Frau mit Screening [1].

Bei dieser Bewertung von Lebenszeit werden starke Vereinfachungen vorgenommen und Annahmen gemacht, die sich wesentlich auf das Ergebnis auswirken. Im Bericht des Swiss Medical Board heißt es dazu: „Verschiedene der im Wirkungsmodell getroffenen Annahmen weisen Unschärfen aus und können variieren.“ [1] Wenn beispielsweise angenommen wird, dass sich eine Frau mit falsch-positiven Befund anstatt 6 nur 2 Monate beeinträchtigt fühlt, ergibt sich daraus rechnerisch bereits eine positive Wirkung von 0,00327 QALY pro Frau mit Screening [1].

Zu guter Letzt wird dieser in QALY berechneten Wirksamkeit die Kosten pro Screening-Untersuchung gegenübergestellt. Da die Bewertung der Wirksamkeit negativ ausfällt, kommt das Swiss Medical Board auch zu einem negativen Kosten-Wirksamkeit-Verhältnis. Die vom Board ausgesprochenen Empfehlungen sind auf dieser Basis nur eine logische Konsequenz.

Gleiche Erkenntnisse – unterschiedliche Schlussfolgerungen
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich die vom Swiss Medical Board dargestellten Erkenntnisse aus der aktuellen Studienlage zu erwünschten und unerwünschten Wirkungen des Screenings entgegen vieler Berichte in der Presse mit dem „globalen Konsens der führenden Experten“ deckt. Die durchgeführte Modellierung zur Messung der Wirksamkeit des Screenings greift allerdings zu kurz. Warum das Gremium seine Empfehlungen auf das Ergebnis dieser vereinfachten und instabilen Modellierung basiert, bleibt leider unklar. Zwei andere unabhängige Expertengremien in Großbritannien [3] und in den Niederlanden [7] haben auf Basis derselben Studienlage unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus dem Mammographie-Screening-Programm im eigenen Land die Fortführung der nationalen Programme empfohlen. Sie kommen zu dem Schluss, dass das organisierte Mammographie-Screening-Programm Leben rettet und die Vorteile überwiegen.

Tabelle 1: Karnofsky-Index [8]

Wert Beschreibung
1.0 Keine Beschwerden, keine Zeichen der Krankheit.
0.9 Fähig zu normaler Aktivität, kaum oder geringe Symptome.
0.8 Normale Aktivität mit Anstrengung möglich. Deutliche Symptome.
0.7 Selbstversorgung. Normale Aktivität oder Arbeit nicht möglich.
0.6 Einige Hilfestellung nötig, selbständig in den meisten Bereichen.
0.5 Hilfe und medizinische Versorgung wird oft in Anspruch genommen.
0.4 Beträchtlich behindert. Qualifizierte Hilfe praktisch täglich benötigt.
0.3 Schwerbehindert. Hospitalisation erforderlich.
0.2 Schwerkrank. Intensive medizinische Maßnahmen erforderlich.
0.1 Moribund. Unaufhaltsamer körperlicher Verfall.
0.0 Tod.

(Quelle: Tabelle 7 Swiss Medical Board [1])

Literatur
[1] Swiss Medical Board, Hrsg. Systematisches Mammographie-Screening. Bericht vom 15. Dezember 2013. Zollikon. 2013
[2] Kääb-Sanyal V. Ungünstiges Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis des sys. Mammografie-Screenings? – Alte Zahlen, neue Bewertung – wie das Swiss Medical Board zu seinen Empfehlungen kommt. Senologie – Zeitschrift für Mammadiagnostik und -therapie 2014; 11(3): 123-127
[3] Independent UK Panel on Breast Cancer Screening. The benefits and harms of breast cancer screening: an independent review. Lancet 2012; 380 (9855): 1778-86
[4] Duffy SW, Ming-Fang Yen A, Hsiu-Hsi Chen T. Long-term benefits of breast screening. Breast Cancer Management 2012; 1: 31-8
[5] Hofvind S, Ponti A, Patnick J, et al. False-positive results in mammographic screening for breast cancer in Europe: a literature review and survey of service screening programmes. J Med Screen 2012; 19 Suppl 1: 57-66
[6] Puliti D, Duffy SW, Miccinesi G, et al. Overdiagnosis in mammographic screening for breast cancer in Europe: a literature review. J Med Screen 2012; 19 Suppl 1: 42-56
[7] Health Council of the Netherlands. Population screening for breast cancer: expectations and develop-ments. The Hague: Health Council of the Netherlands, 2014; publication no. 2014/01E
[8] Karnofsky D, Burchenal J. The Clinical Evaluation of Chemotherapeutic Agents in Cancer. In: Mac Leod C, ed.; Evaluation of Chemotherapeutic Agents. New York: Columbia University Press 1949. p. 196

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